Die Literaturseite von Eckart Winkler
Der Faust ist weg

 

Soweit ich mich erinnern kann, hatten wir in der Schule eine Tragödie namens "Faust" von einem gewissen Goethe gelesen und besprochen. Das ist nun zwar schon einige Zeit her, aber dennoch waren mir einige Passagen davon in Erinnerung geblieben.

Jedoch nicht ganz genau, und damit fing diese Geschichte eigentlich an. Irgendeine Einzelheit wollte ich nachlesen, und dazu ging ich ins Arbeitszimmer, in dem ich mein Exemplar vermutete. Ich war mir sogar ganz sicher, an welcher Stelle im Regal es stehen mußte. Ein kleines gelbes Heft mußte es sein. Allein, es war nicht da.

Hatte ich mich also doch getäuscht? Ich durchstöberte das gesamte Regal, ohne Erfolg. Konnte es dahinter gefallen sein? Nein, das hätte ich beim Putzen bemerken müssen. Vielleicht hatte ich schon einmal etwas darin gesucht und es dann unachtsam irgendwohin gelegt.

Ich dehnte meine Suche auf das gesamte Arbeitszimmer aus, dann auf die ganze Wohnung. Ich suchte in Kisten und Kästen, in Nischen, unter Teppichen, im Kleiderschrank, in der Werkzeugkiste und im Lebensmittelschrank. Vergeblich. Auch der Keller gab den Faust nicht her, ebensowenig das Auto. Er blieb verschwunden.

Es gab eigentlich nur noch die Möglichkeit, daß ich das Heft an jemanden verliehen und nicht zurückerhalten hatte. Ja, das mußte es sein. Einige Namen fielen mir schon ein, denen ich mal das ein oder andere Buch geborgt hatte. Aber wen ich auch fragte, von einem Faust wußten die nichts. Die kannten weder Titel noch Autor, und das war mir schon sehr suspekt.

Aber es gab ja auch noch meine ehemaligen Klassenkameraden, mit denen zusammen ich den Text gelesen hatte. Da war ich mir sicher, die mußten sich doch daran erinnern. Aber nein, dasselbe Resultat. Faust, Goethe? Nie gehört! So langsam zweifelte ich an meinem Erinnerungsvermögen. Vielleicht hatten wir den Text gar nicht in der Schule durchgenommen. Vielleicht hatte ich den Faust später mal gelesen. Dann wäre es ja verständlich, daß sich niemand daran erinnern konnte. Nur dachte ich doch, daß der Goethe so bekannt war, daß sich zumindest mal jemand an den Namen erinnern würde.

Gut, dann mußte ich mir ein neues Exemplar kaufen. Heutzutage ist ja jede Buchhandlung an ein Computernetz angeschlossen und kann jeden nur erdenklichen Titel ausfindig machen. Tja, nur mit dem Faust klappte es nicht. Vorrätig war er nicht, die Buchhändlerin kannte weder Titel noch Autor. Und im Computer gab es überhaupt keinen Goethe, geschweige denn einen Faust.

Ebenso erging es mir in der zweiten und dritten Buchhandlung. Weiteres Forschen in dieser Richtung würde sich wohl kaum lohnen, so sagte ich mir. Denn die sind ja wohl alle ans selbe Computernetz angeschlossen. Und wenn die erste bis dritte Buchhandlung mir nicht weiterhelfen kann, wird es die vierte wohl auch kaum können.

Nun war ich aber wirklich fassungslos. Hatte ich noch vor wenigen Tagen in der festen Überzeugung gelebt, der Faust sei eines der klassischen Werke deutscher Literatur, so hätte ich nun nicht einmal mehr beschwören können, daß er jemals geschrieben worden sei. Ja, vielleicht hatte es diesen Goethe überhaupt nie gegeben.

Ich gab Inserate in Zeitungen auf, ich besuchte Flohmärkte und historische Museen. Immer weiter fuhr ich. Erst nur innerhalb von Deutschland, dann auch nach Österreich und Frankreich, Polen und Dänemark. Nichts. Keine Spur von Goethe, keine Spur von Faust. Ich ging von Haus zu Haus, von Tür zu Tür, sprach jeden an, fragte Leute auf der Straße. Keine Spur von Goethe, keine Spur von Faust.

Letzte Woche startete meine Plakataktion. 20000 Plakate in 3000 Städten und Gemeinden Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Meine Ersparnisse bin ich längst los. Die Bank gibt mir keinen Kredit mehr, und so langsam bin ich auch mit meinen Nerven am Ende. Aber es hilft nichts: Der Faust ist weg.

 
Eckart Winkler, Bad Nauheim, Sep.1997, www.eckart-winkler.de

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